#2 Sex & Flirten
Wir wollen schönen Sex ohne Selbstoptimierungszwänge!
Sex ist politisch!
In dieser Rubrik geht es um Sex. Wir wollen mit den Artikeln dazu beitragen, Sex besser zu machen. Besser im Sinne von weniger gewaltvoll, weniger geprägt durch Übergriffe und Grenzverletzungen, am besten auch noch lustvoller und schöner für alle Beteiligten.
Wir sind uns sicher: Dafür müssen wir lernen, besser miteinander zu kommunizieren. Einen Vorschlag dazu macht Joris Kern im Beitrag „Konsens“.
Gleichzeitig ist Reden nicht alles. Sex und Sexualität sind keine rein individuelle, persönliche Praxis, an der wir herumschrauben und die wir irgendwie verbessern müssen. Sexualität ist auch politisch. Heteronormativität, Geschlechterverhältnisse und die darin existierenden Hierarchien durchziehen Sexualität und sexuelles Begehren. Von Feminist*innen wird schon seit den 70ern auf den prinzipiell gewaltvollen Kern von Heterosexualität hingewiesen.
Im Zuge der 68er-Bewegung wurden in den 70er Jahren der politische Kern von Sexualität wesentlich stärker thematisiert als heute. Insbesondere queere und feministische Kämpfe haben viel erreicht. Um Sexualität neu zu erfinden und erfüllt leben zu können, waren besonders für Frauen Kämpfe um Selbstbestimmung zentral: feministische Errungenschaften wie Zugang zu Verhütungsmitteln, straffreier (wenn auch weiterhin illegaler und häufig schwieriger) Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, ein anderer Blick auf sexualisierte Gewalt und Partnerschaftsgewalt wurden in diesen Jahren erkämpft. Aber auch queere Kämpfe um die Anerkennung und Entkriminalisierung von nicht-heteronormativem Begehren erkannten Sex als einen politischen Hebelpunkt.
Durch die Kommerzialisierung und kapitalistische Einhegung in den 90er und 2000er Jahren ist Sex heute vor allem ein weiteres Projekt, in dem wir uns selbst optimieren sollen. Franz Eder (2010) beschreibt die Abkehr von gesellschaftlichen Moralvorstellungen hin zu „neuen Geboten“ und „Anrufungen“:
„Das Sexuelle wurde dabei zu einem Lebensbereich, in dem immer weniger Verbote und moralische Vorschriften existierten, dafür aber neue „positive“ Forderungen und Zwänge etabliert wurden, die es zu erfüllen gilt. Etwa orgasmusfähig zu sein, eine/n gute/n Liebhaber/in abzugeben oder experimentierfreudig an der Steigerung der Lust zu arbeiten.“ (Eder S.171f [1])
Nach dem Artikel von Lukas Tau „Fragile Erektion“ in Ausgabe 1 haben mir, Ulla, diverse cis männliche Freunde von ihren eigenen Erektionserfahrungen erzählt. Von der Scham und Angst, die damit behaftet ist, nicht dem Bild des potenten Stechers zu entsprechen und von der Erleichterung darüber zu lesen, nicht der Einzige zu sein. Viele meiner Freund*innen arbeiten an ihren Orgasmen, ihren Blow-Job-Techniken, aber auch an der Erforschung der eigenen sexuellen Lüste und daran, besser kommunizieren zu lernen. Sie arbeiten daran, besonders auch eigene Grenzen setzen zu können, um sich beim Sex vor Grenzverletzungen zu schützen.
Das alles kann sich gut und richtig anfühlen und sind persönlich auch gute Errungenschaften. Gleichzeitig rückt die gesellschaftliche Dimension, rücken Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus dem Blick. Unser Begehren ist nicht unschuldig [2]. Worauf wir stehen, was wir sexy, attraktiv usw. finden, kommt nicht einfach aus unserem innersten Selbst. Es gibt keinen „essentialistischen Kern“ (Torenz, S.25) authentischer Sexualität. Vielmehr ist unser Wollen gesellschaftlich produziert. Mit der Idee eines irgendwie „natürlichen“ Begehrens lässt sich noch der letzte patriarchale Scheiß rechtfertigen: Letztens sagte ein Bekannter zu mir „Ich stehe nunmal auf junge, schlanke Frauen“. Ah ja, nun, da kann man wohl nichts machen. Ein anderer Freund hatte sich gerade auf OKCupid angemeldet und suchte Frauen, die tendenziell 10 Jahre jünger als er selbst waren mit der Begründung: „Junge Frauen passen besser zu mir, Frauen ab 40 gehen nicht mehr feiern.“ Spei. Wie entlernen wir diese verinnerlichte Horrorshow?
Auch in unseren Versuchen, Sex durch Reden besser – also weniger gewaltvoll, lustvoller usw. – zu machen, spielen Hierarchien und Machtverhältnisse eine Rolle. Bei aller Überzeugung, dass Kommunikation und Konsens unabdingbar sind für schöne sexuelle Erfahrungen: was können wir eigentlich sagen? Wo werden der Kommunikation auch Grenzen gesetzt durch eben diese Machtverhältnisse? Wer kann sich vor was schützen? Wenn ich nicht klar genug wusste, was ich (nicht) will, es mich nicht getraut habe zu sagen oder aus anderen Gründen ein Nein nicht möglich war, gibt mir das eine Mitschuld am Übergriff? (Selbstverständlich nicht, aber die Frage stellte ich, Ulla, mir leider dennoch.)
„Konsens ist ein Privileg und es wurde geschaffen für wohlhabende, heterosexuelle, cis, weiße, westliche Männlichkeit ohne Behinderung. Wenn die Gesellschaft manche von uns gelehrt hat, so wenig Platz wie möglich einzunehmen, jede Aufmerksamkeit als schmeichelhaft aufzufassen, und wahrlich dankbar zu sein, dass überhaupt irgendjemand unsere Körper oder Liebe wollen könnte, haben wir nicht immer die Wahl, Ja zu sagen. […] Wir können Konsens nicht für alle zugänglich machen, wenn wir nicht gleichzeitig diese Strukturen brechen.“ (Jordan Bosiljevac zitiert nach Torenz 2019, S. 56)
Wie tun wir das? Wie bedeutsam ist es, die eigenen Sexualpraktiken zu ändern? Das eigene Begehren zu hinterfragen?
Joris Kern teilt einige Ideen und Erfahrungen aus der langjährigen Workshoppraxis zum Thema Reden und Konsens. Und in „Über Sex reden 2“ spinnen wir, Lukas und Ulla, die Gedanken aus der 1. Ausgabe weiter. Wie immer fragen wir uns: wie weiter? Wie persönlich-individuell ein schönes Sexleben haben und gleichzeitig gesellschaftliche Heteronormativitätsgebote brechen?
[1] Eder, Franz (2010): Liberalisierung und Kommerzialisierung der Sexualität in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. in Benkel, Thorsten; Akalin, Fehmi (Hg.) (2010): Soziale Dimensionen der Sexualität, Psychosozial-Verlag,Gießen
[2] Diese Formulierung habe ich meiner Freundin Katharina Debus geklaut. Danke dafür!