Gynformation.de

Das Gynformation-Kollektiv stellt sich und seine Arbeit vor

Gynformation-Kollektiv

Erschienen in: Ausgabe 01-2021
Rubriken: Medizinisches

Die normative Fokussierung auf cis-männliche, weiße, nicht-behinderte Körper in der medizinischen Forschung und Praxis hat zahlreiche Formen von Diskriminierung zur Folge und fördert ein stark von Hierarchien, einseitigen Abhängigkeiten und Kontrolle geprägtes System. Die Gynäkologie ist ein medizinischer Fachbereich, in dem ein einfühlsamer Umgang besonders wichtig ist – denn oft geht es um Fragen der eigenen Identität, Sexualität und Lebensplanung und die Untersuchungen sind häufig körperlich intim. Übergriffiges, diskriminierendes oder unachtsames Verhalten innerhalb der Gynäkologie kann als besonders grenzüberschreitend erlebt werden. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, auf gynformation.de eine Liste von behandelnden Personen in Deutschland aufzubauen, die Patient*innen dabei unterstützen soll, jemanden zu finden, der*die ein Bewusstsein für Konsens in der Behandlung hat und erfahrene Diskriminierung nicht erneut reproduziert.

Mit unserem Verzeichnis, Glossar und dem Expert*innenblog auf der Webseite, wollen wir dazu beitragen, dass wir uns einerseits selbstbewusster gegen Übergriffe und Diskriminierungen wehren, und andererseits Wissen aneignen können, um solidarisch auch mit Menschen zu sein, deren Diskriminierungs- und (sexualisierte) Gewalterfahrungen wir nicht teilen.

Zum Beispiel sind unterschiedliche Formen von Rassismus im Bereich der Medizin historisch und kolonial begründet, bis heute wirksam und mit schwerwiegenden gesundheitlichen, oft gewaltsamen Folgen für Schwarze, Indigene und Patient*innen of Color verbunden – das reicht von vermeintlich lapidaren Kommentaren im Behandlungszimmer, über Fehldiagnosen bis hin zu höherer Sterblichkeitsrate und Komplikationen bei Schwangerschaft und Geburt.1 Medizinische Forschung und Praxis müssen daher dringend dekolonisiert werden! 

Wir wollen außerdem das Bewusstsein für ableistische Ausschlüsse in der Gynäkologie schärfen: Es braucht dringend barrierefreie gynäkologische Räume für be_hinderte2 Patient*innen, in denen diskriminierungssensibel gearbeitet wird und selbstbestimmte Entscheidungen ermöglicht werden. Außerdem erkennen wir die besondere Diskriminierung von trans, inter, nichtbinären Personen in der Medizin an, die oft schon bei cis-sexistischer bzw. binärer Geschlechterdarstellung auf Formularen oder beim Missgendern im Empfangsbereich beginnt, und fordern eine Sensibilisierung für cissexistische Ausschlüsse in der gynäkologischen Behandlung. Queere, trans, inter, lesbische, bi- und pansexuelle, nicht-binäre, asexuelle, aromantische, polyamouröse und schwule Personen, Lebensweisen, Partnerschaften oder Familien möchten wir speziell in gynäkologischen Kontexten sichtbar machen und empowern. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, bei gynäkologischen Behandlungen, während der Schwangerschaft und Geburt, wie auch bei Fehl- oder Totgeburten und Schwangerschaftsabbrüchen respektvoll behandelt zu werden und weiterhin selbstbestimmte Entscheidungen über den eigenen Körper zu treffen. 

Wir setzen uns mit unserer Initiative außerdem für das Informationsrecht zum Thema Schwangerschaftsabbruch ein und veröffentlichen auch Empfehlungen für Praxen, die solche durchführen. Denn wir brauchen nicht nur einfach zugängliche und übersichtliche Informationen darüber, wer Abbrüche anbietet, sondern auch darüber, mit welcher Methode und zu welchem Preis die Behandlung durchgeführt wird und ob ein respektvoller und umsichtiger Umgang zu erwarten ist. Das gleiche gilt auch für andere gynäkologische Behandlungen, wie unterschiedliche Verhütungsmethoden, einschließlich nicht-hormoneller Methoden und Sterilisation, über die wir informiert werden sollten, ohne dafür von der behandelnden Person beurteilt zu werden. 

Unser Verzeichnis führt daher kompetente behandelnde Personen für bestimmte Personengruppen und Behandlungsmethoden bzw. gynäkologische Fachbereiche auf. Das Verzeichnis wird dabei ausschließlich auf der Grundlage von individuellen Empfehlungen durch User*innen und mittels eines komplexen Fragebogens nach und nach aufgebaut und erweitert. Dabei empfehlen User*innen eine behandelnde Ärzt*in nur für Personengruppen, der sie selbst auch angehören.

Wir werten jeden Fragebogen einzeln und anonymisiert im Kollektiv aus, bevor wir die Informationen zur empfohlenen Person auf unserer Webseite zur Verfügung stellen. Wir arbeiten bewusst als Kollektiv, d.h. wir besprechen inhaltliche und strukturelle Fragen in der Gruppe und versuchen dabei möglichst viele Erfahrungen und Stimmen einzubeziehen. In unserem Auswertungs-Team sind ausschließlich Menschen, die selbst Erfahrungen mit gynäkologischer Behandlung als Patient*innen gemacht haben/machen, mit unterschiedlichen Hintergründen und Expertisen.

Egal für welche Untersuchungen und Behandlungen, wollen wir damit ermöglichen, dass Patient*innen professionelle, vorurteilsfreie und kompetente Unterstützung in den eigenen Entscheidungsfindungen erhalten – und zwar egal ob sie sexuell aktiv sind oder nicht, mit wem und wie vielen Partner*innen sie Sex haben, ob sie Kinder haben möchten oder nicht, ob sie wenig Geld haben, mit welchen Pronomen sie angesprochen werden möchten, ein Kopftuch tragen, wie sie aussehen, ob sie HIV-positiv sind, Erfahrungen mit (sexualisierter) Gewalt gemacht haben, egal, welches Geschlecht ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, ob sie beschnitten sind, Deutsch sprechen oder nicht, welchen Aufenthaltsstatus sie haben, ob sie Drogen nehmen, einen Rollstuhl benutzen, Sexarbeiter*innen sind, oder oder oder.

Kleine Auswahl zum Weiterlesen

Alexander, Katherina: „Ich habe es gehasst“ – Was trans Männer in einer gynäkologischen Praxis erleben. In Ze.tt (Oktober 2020): https://ze.tt/was-trans-maenner-in-einer-gynaekologischen-praxis-erleben/

Davis ,Angela: Rassismus, Geburtenkontrolle und das Recht auf Nachkommenschaft. In: Angela Davis: Rassismus und Sexismus. Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA (1982).

Giese, Linus: Ich bin Linus. Wie ich der Mann wurde, der ich schon immer war (2020).

Hänel, Kristina: Das Politische ist Persönlich. Tagebuch einer „Abtreibungsärztin“ (2019).

Roberts, Doroty: Killing the Black Body – Race, Reproduction and the Meaning of Liberty (1997).

Rousparast, Valerie-Siba: Unter Weißen Kitteln. In Missy Magazine (April 2019).

Sowemimo, Annabel: Why race is still a factor in antenatal care. In Raconteur (August 2020): https://www.raconteur.net/healthcare/fertility/racial-disparities-antenatal-care/

Tretau, Alisa (Hg.): Nicht nur Mütter waren Schwanger. Unerhörte Perspektiven auf die vermeintlich natürlichste Sache der Welt (2018).

Washington, Harriet A.: Medical Apartheid (2006).

Fußnoten

1 Leider gibt es im deutschsprachigen Raum fast keine Studien zu rassistischen Diskriminierung während Schwangerschaft und Geburt, vgl. aber z.B. Seidel V, Gürbüz B, Grosskreutz C, Vortel M, Borde T, Rancourt R, Stepan H, Sauzet O, Henrich W, David M: The influence of migration on women’s use of different aspects of maternity care in the German health care system: Secondary analysis of a comparative prospective study with the Migrant Friendly Maternity Care Questionnaire (MFMCQ) Birth-19-07-10.R1 (Published online: 18 December 2019) https://doi.org/10.1111/birt.12476. Weitere Leseempfehlungen zum Thema am Ende des Artikels.

2 Wir verwenden diese Schreibweise, um darauf hinzuweisen, dass be_hinderte Menschen 1. nicht nur durch ihre Be_hinderung charakterisiert sind und 2. dass sie nicht per se ‚behindert‘ sind, sondern von der Umwelt behindert werden. Um diese von Behindertenrechtsaktivist*innen proklamierte Sichtweise in der alltäglichen Sprache zu verankern und die Behinderung durch äußere Umstände wie Gebäude oder Strukturen sichtbar zu machen, kann z.B. der Unterstrich verwendet werden: be_hindert.

Wir sind ein Kollektiv queer-feministischer Aktivist*innen mit unterschiedlichen Hintergründen, die aus Patient*innen-Perspektive für Selbstbestimmung im Kontext gynäkologischer Behandlungen eintreten.