Heteropessimismus: Auf der Suche nach neuen Formen

Die Autorin beschreibt die frustrierenden Erfahrungen als heterosexuelle Frau in kapitalistischen Vereinzelungslogiken.

Johanna Montanari

Erschienen in: Ausgabe 02-2022
Rubriken: Beziehungen

Heteropessimismus: Auf der Suche nach neuen Formen

 

Vor einiger Zeit gab es eine englischsprachige Debatte, die es meines Wissens nach nicht in den deutschsprachigen Kontext geschafft hat und die ich hier aufgreifen will. Im Oktober 2019 veröffentlichte die Autorin Indiana Seresin auf dem US-amerikanischen Online-Magazin The New Inquiry den Artikel „On Heteropessimism: Heterosexuality is nobody’s personal problem“[1]. Seresin erfindet darin den Begriff Heteropessimismus, womit sie den emotionalen Zustand heterosexueller Menschen bezeichnet, die Bedauern, Scham und Hilflosigkeit angesichts der eigenen Heterosexualität empfinden. Als Reaktion auf ihren Artikel wurde Heteropessimismus auch von weiteren Autor*innen diskutiert, bei denen der Begriff Resonanz fand.

Seitdem ich Seresins Artikel gelesen habe, geht mir der Begriff nicht mehr aus dem Kopf. Ich frage mich, wie uns der Begriff dabei helfen kann, neue Formen zu finden, Beziehungen zu führen.

Seresin argumentiert in ihrem Artikel, dass viele heterosexuelle Menschen jegliche Hoffnungen, etwa auf eine gleichberechtigte Liebesbeziehung, aufgegeben hätten. Heteropessimismus ermögliche, sich „präventiv gegen die allgegenwärtige Schrecklichkeit der heterosexuellen Kultur sowie den scharfen Einbruch des alltäglichen romantischen Schmerzes zu betäuben“[2].

Auch ich kenne das Gefühl gut, hartnäckigen Pessimismus in Bezug auf das eigene (heterosexuelle) Liebesleben zu empfinden. Ich bin oft pessimistisch, was Beziehungen und Familiengründung insgesamt angeht. Ich habe Angst davor, dass Freund*innen mit zunehmendem Alter eine weniger große Rolle spielen, es schwieriger wird, das Leben mit anderen zu teilen. Heterosexualität kommt mir einsam vor, nicht nur als Single, sondern auch als Paar oder als Familie. Als heterosexuelle Single-Frau hatte ich das Gefühle meine emotionalen Bedürfnisse erst los werden zu müssen, um „cool genug“ für Dating zu sein. „Ich bin richtig schlecht darin, Single zu sein“, dachte ich oft, schämte mich und zog mich zurück.

Seresin spricht davon, dass Heteropessimismus es vermeiden will, anhänglich und emotional zu erscheinen. Heteropessimismus, sagt Seresin, würde dabei trotz der oberflächlichen Ablehnung normative Formen der Heterosexualität sogar stabilisieren. Heteropessimist*innen würden sich zwar vielleicht lautstark darüber beschweren, heterosexuell zu sein, jedoch keinesfalls mit neuen Liebesformen experimentieren. Heteropessimistisch seien damit zum Beispiel Frauen, die sich bei ihren lesbischen Freundinnen ausheulten, wieviel leichter es doch wäre, homosexuell zu sein.

Seresin beschreibt, dass Heteropessimismus oft als antikapitalistische Position formuliert werde, nämlich als Ablehnung der Heteropaares als Konsumeinheit. Längst seien es im zeitgenössischen Kapitalismus jedoch Individuen, die aufgefordert seien, zu konsumieren. „War in der Vergangenheit das Paar die primäre Verbrauchereinheit, so ist diese heute zusammengebrochen oder genauer gesagt durch eine neue Dyade ersetzt worden, die einzelne Person und ihr Telefon,“[3] schreibt sie und erwähnt eine Werbekampagne von Tinder, die das Single-Dasein als die beste Lebensform feiert. Seresin schreibt außerdem: „Heteropessimismus hat dazu beigetragen, diese individualisierende Wende zu stimulieren, nicht nur, indem er der Hetero-Paar-Form ihre Attraktivität entzogen hat, sondern weil die Unzufriedenheit mit Heterosexualität, obwohl sie als universell verkauft wird, immer auf der Ebene des Individuums zu wirken scheint.“[4]

Wenn ich Seresin richtig verstehe, ist dem Heteropessismus nicht zu trauen, weil er einzig und allein individualisierende Unzufriedenheit hervorbringt. Heteropessimismus verhindert also sozialen Wandel gerade dadurch, dass Personen dauerhaft präventiv enttäuscht sind. Ich fühle mich ertappt, aber auch gefangen. Ich will nicht dauerhaft präventiv enttäuscht sein, sondern Patriarchat und normative, binäre Geschlechtervorstellungen kritisieren und trotzdem Liebesbeziehungen eingehen – nur wie?

Wie wir dem Heteropessimismus entkommen können, sagt Seresins Artikel nicht, aber ich zerbreche mir darüber, seitdem ich den Artikel gelesen habe, den Kopf. Die nahe liegende Lösung, nämlich sich individuell von Heterosexualität zu verabschieden, scheint mir, zumindest in der akuten Pessimismus-Situation, keine Option zu sein. Ich will nicht meiner Sexualität, sondern meinem hartnäckigen Pessimismus entkommen, dem ich unterstelle, sich auf alle Liebes- und Lebensformen auszubreiten. Ich will raus aus der Individualisierung, die mit dem Heteropessimismus (und vielleicht nicht nur mit ihm, sondern mit Düsternis im Allgemeinen) einhergeht.

Was mir bisher schon geholfen hat, war die bewusste Entscheidung, Intimität und Zärtlichkeit eine Priorität in meinem Leben einzuräumen, und zwar trotz meiner emotionalen Bedürfnisse, die ich auch weiterhin als Herausforderung empfinde. Ich will für mein Wollen einstehen, meinem Begehren Platz in meinem Leben machen.

Inzwischen bin ich zu folgender Überzeugung gelangt: Ich kann eine heterosexuelle Beziehung führen oder nicht, Datingapps nutzen oder nicht – dem Heteropessimismus entkomme ich nur, wenn ich meine Bedürfnisse, mein Begehren und meine Sexualität liebevoll willkommen heiße, zusammen mit der Verletzlichkeit, die damit einher geht. Dabei ist mir wichtig, gleichzeitig das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, das Patriarchat abzuschaffen (wie den Kapitalismus übrigens auch).

Heteropessimismus als Begriff kann uns vielleicht sogar etwas darüber sagen, wie das Patriarchat funktioniert. Ich denke, das Patriarchat funktioniert nicht über einzelne Menschen (etwa: alle cis Männer), sondern enthält Verhaltensmuster, Bilder, Ängste, Strukturen, die durch uns alle durchgehen, auch wenn wir ganz unterschiedlich positioniert und privilegiert sind. Es ist Teil der heutigen Mechanismen des Patriarchats, zu denken, um cool zu sein, müsste ich alle Bedürfnisse und Verletzlichkeiten von mir abschneiden. Die Scham darüber, emotional bedürftig zu sein, ist Teil des Patriarchats. Manche kommen weniger in Kontakt mit ihr als andere (etwa da sie durch ihre privilegierte Position gewohnt sind, dass für sie gesorgt wird), doch eigentlich betrifft sie uns alle.

Ich deute das Phänomen Heteropessimismus deswegen als Zeichen einer Sehnsucht, nämlich der Sehnsucht, aus dem Patriarchat auszusteigen zu können, ohne sich dabei verletzlich zu machen. Der Wunsch ist, mit all dem nichts mehr zu tun zu haben. Doch wir können nicht aus dem Patriarchat aussteigen, indem wir uns isolieren. Das Patriarchat schaffen wir nur gemeinsam ab. Wir brauchen uns.

Heterosexualität kann mit einer Vielzahl an Bildern auffahren, wie wir angeblich zu sein hätten, ob als Single, Paar oder Familie. Diese Bilder können Orientierung geben, aber auch den Möglichkeitsraum sehr, sehr eng erscheinen lassen, darin etwas Eigenes zu finden, insbesondere wenn wir politische Ansprüche an uns selbst oder unsere heterosexuelle Beziehung stellen.

Wir machen uns verletzlich, wenn wir unser Wollen, unsere Bedürfnisse und unser Begehren in die Welt hinaus tragen, je nach unserer Positionierung manche mehr als andere. Aber auch wenn wir das nicht tun, auch wenn wir uns isolieren, sind wir verletzlich, gerade dann, auch wenn Heteropessimismus uns etwas Anderes vorgaukelt. Heteropessimismus entsteht aus real gemachten Erfahrungen und möglicherweise sogar realistischen Einschätzungen der Welt. Zu gucken, in welchen Ecken, Rissen, Spalten wir trotzdem Verbundensein pflanzen und wachsen lassen können, ist eine fragile Angelegenheit.

Um dem Heteropessimismus zu entkommen, schlage ich vor, Beziehungen zu führen: nicht die eine heterosexuelle Liebesbeziehung oder das unabhängige Single-Leben, sondern ein Leben in Verbindung mit Anderen und in Verbindung mit uns selbst. Dafür brauchen wir die Zuversicht, dass wir keine heteronormativen Beziehungen führen müssen, dass wir eigene Bedeutung geben können. Und dass wir dafür genau richtig sind, so wie wir jetzt gerade sind. Das wichtige dafür ist, in Interaktion zu gehen und dazu zu stehen, wer wir sind und was wir brauchen. In Verbindung mit anderen und uns selbst zu sein, ist Voraussetzung für ein widerständiges Leben, das sich der Heteronorm genauso wie der Single-Norm und der Einsamkeit widersetzt. Gemeinsam können wir unserem Tun und Handeln Sinn geben, eigene Maßstäbe entwickeln, aus der Norm fallen und trotzdem nicht daran scheitern.

 

 

 

In „Unsere eigenen Spielregeln. Für eine Kultur, wie wir sie uns wünschen“ habe ich mehr zum Thema Verletzlichkeit geschrieben. Der Text ist ein Kapitel in „Kultur und Politik im prekären Leben“, ein Buch, das 2020 bei Neofelis erschienen ist.


[1] https://thenewinquiry.com/on-heteropessimism/

[2] “[Heteropessimism’s] structure is anticipatory, designed to preemptively anesthetize the heart against the pervasive awfulness of heterosexual culture as well as the sharp plunge of quotidian romantic pain.”

[3] “If the couple was the primary consumer unit of the past, today this has collapsed, or more accurately been replaced by a new dyad, the individual consumer and her phone.”

[4] “Heteropessimism has helped stimulate this individualizing turn, not just by draining the hetero couple form of its appeal but because dissatisfaction with heterosexuality, despite being sold as universal, always seems to operate on the level of the individual.”