Kein Käfig, keine Grenze. Für eine Politik der Beziehungen und der Präzision
Über eine positive Vorstellung vom Nein sagen
Ich habe lange übers Nein sagen nachgedacht. 2017 habe ich in dem Essayband „Wege zum Nein“ (edition assemblage) den Text „Kein Käfig, keine Grenze“ veröffentlicht. Darin habe ich mich mit der Metapher der Grenze in zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere Liebesbeziehungen, beschäftigt. Mein Ausgangspunkt war, dass insbesondere heterosexuelle Liebesbeziehungen von Feindseligkeit geprägt sind, die oft mit Angst vor Zurückweisung oder sich eingeschränkt Fühlen verbunden ist. Ich entwickle in diesem Text eine positive Vorstellung vom Nein sagen, die ich als Politik der Beziehungen und der Präzision beschreibe. Meine Idee war, Nein sagen nicht als Grenze zu denken, sondern als etwas, das neuen Raum aufmacht. Hier ein Auszug aus dem Text:
Ich glaube, dass die Metapher der Grenze auf feindselige Logiken verweist, auf Logiken der Herrschaft, und dass diese Logiken dafür sorgen, dass Beziehungen zu Käfigen werden. Ich wünsche mir Beziehungen mit Verbündeten voller Wohlwollen. Dazu gehört für mich Nein sagen zu können, ohne dass das bedeutet, dass ich mich abgrenze. (…)
Feindseligkeit sehe ich als Grundhaltung in vielen zwischenmenschlichen Interaktionen, auch in nahen Beziehungen. Nähe gilt als bedrohlich und nur um den Preis zu haben, dass ich mich verletzbar mache. Liebe wird häufig als Kontrollverlust beschrieben. In der heterosexuellen Vorstellung von Männern und Frauen ist Feindseligkeit akzeptiert und sogar erwünscht. Die gesellschaftlich akzeptierte Feindseligkeit des heterosexuellen Flirtens beinhaltet zum Beispiel: Sich rar machen, damit die andere Person auf einen zugeht. Was sich neckt, das liebt sich. Bloß nicht leicht zu haben erscheinen. (…) In Freundschaften findet sich die feindselige Haltung zum Beispiel, wenn über die Freundschaft als Investition oder als Kompromiss geredet wird und wenn ich mein Handeln mit deinem aufrechne. (…)
Insbesondere in unseren nahen Beziehungen wollen wir keine Hierarchien zwischen uns und imaginieren uns als Gleiche, die eine Wahrheit teilen. Ich glaube, dass viel Feindseligkeit aus der Enttäuschung entsteht, eben nicht gleich zu sein und sich der Möglichkeiten der Interaktion beraubt zu sehen. Mit der Politik der Beziehungen und der Präzision beziehen wir uns als zwei Personen mit eigenen Wahrheiten aufeinander. Für eine wohlwollende Haltung nehme ich dich als radikal anders ernst. Wenn ich denke, dass wir gleich sind, gehe ich davon aus, dass meine Wahrheit für uns beide gilt und kann über dich urteilen. (…) Wenn ich dich dagegen als radikal anders ernst nehme, bist du dein eigenes Universum, ich mein eigenes Universum. Ich nehme eine Außen-Position ein, frage nach, um dich zu verstehen. Ich äußere, was ich verstanden habe, sodass du mich gegebenenfalls korrigieren kannst. Ich nehme gleichzeitig eine radikale Differenz wie auch eine radikale Gleichheit an. Du bist dein eigenes Universum, du bist Expertin deiner Wirklichkeit (Differenz). Wir sind alle eigene Universen; es ist möglich, von deinem Universum in meines zu übersetzen (Gleichheit). Das bedeutet nicht, dass eine Übersetzung exakt ist. Das Übersetzen ermöglicht mir vielmehr, mich auf dich zu beziehen, eine Brücke zu bauen und Raum aufzumachen. (…)
Mit einer Politik der Beziehungen und der Präzision suche ich nach Visionen, wie wir als Verbündete, die sich wohlwollend begegnen, Nein sagen können. Ich stelle die Metapher der Grenze für Neinsagen in zwischenmenschlichen Beziehungen in Frage. Wenn ich Neinsagen als „ich mache meine Grenze klar“ denke, ist das Teil einer Logik der Feindseligkeit. „Ich will mich von dir abgrenzen.“ Als räumliche Metapher zieht die Grenze einen Wall zwischen dir und mir. Eine symbiotische, grenzenlose Beziehung erscheint zugleich möglich und als Bedrohung. (…) Die Metapher der Grenze ist mit normativen gesellschaftlichen Vorstellungen einer Hierarchie von Nähe verbunden. Diese Hierarchie behauptet einen allgemeinen Maßstab von Nähe, der Aktivitäten, Berührungen etc. vermeintlich eindeutig als mehr oder weniger nah einordnet und nicht in ihren unterschiedlichen Qualitäten sieht. Wenn ich beispielsweise nicht will, dass du meine Nippel berührst und ich mein Nein als „ich mache meine Grenze klar“ denke, sage ich damit gleichzeitig: Dinge, die räumlich davor liegen, zum Beispiel meinen Hals küssen, sind ok, Dinge, die räumlich dahinter liegen, zum Beispiel die Innenseite meiner Schenkel streicheln, nicht. Die Metapher der Grenze macht eine lineare Hierarchie auf zwischen dem, was als näher gilt (meine Nippel berühren, die Innenseite meiner Schenkel streicheln) und dem, was als weniger nah gilt (meinen Hals küssen). Zur normativen Hierarchie von Nähe gehört auch die Vorstellung der Dramaturgie eines Dates (erst reden, dann sich küssen, dann möglicherweise miteinander schlafen o.Ä.) oder von Sex (erst küssen, dann Oralsex, dann Penetration o.Ä.). Die Grenze impliziert eine gegebene Hierarchie, nicht das präzise Benennen von Wünschen.
Es ist eine feindselige Vorstellung von Nähe, wenn das Überschreiten von Grenzen Teil davon ist, sich näher zu kommen. In dieser Vorstellung ist Nähe ein Sichzubewegen auf eine Grenze, die noch kommt (immer näher, aber noch nicht zu nah). Gleichzeitig liegt Nähe hinter der Grenze (wenn du nicht Nein gesagt hättest, wären wir uns noch näher). Innerhalb dieser feindseligen Logik wird das Aufzeigen einer Grenze als etwas imaginiert, was noch erobert werden kann. Es müssen Grenzen überschritten werden, damit wir uns nah sein können und gleichzeitig besteht die ständige Gefahr, dass ich ein Nein zu hören bekomme und das will ich vermeiden. (…)
Eine Handlung, die gegen meinen Willen geschieht, wird Grenzüberschreitung genannt. Die geläufige Vorstellung ist, dass ich, um eine Grenzüberschreitung zu verhindern, meine Grenzen klar machen muss, mich schützen muss. Die Metapher der Grenze ist nicht geschlechtsneutral. Wer überschreitet wessen Grenze? Es gibt eine machtvolle Erzählung, in der die Person, welche eine Grenze überschreitet, mit Männlichkeit verbunden wird. Die Person, die ihre Grenzen aufzeigt, wird mit Weiblichkeit verbunden, selbst wenn sich diese selbst anders definiert. (…)
Die Metapher der Grenze impliziert, dass es die Verantwortung der Person ist, welche die Grenze empfindet, diese klar zu machen und sich zu erklären. Die Vorstellung ist, dass ich es schaffen muss, immer Nein sagen zu können. Die Person, die auf Nein nicht reagiert, ist nicht im Fokus.
Als Verbündete reagierst du auf mein Nein und das ist das, was den Unterschied macht. Du möchtest dir meine Wirklichkeit vorstellen und diese für wahr nehmen. Mein Nein macht etwas mit dir. Mit einer Politik der Beziehungen und der Präzision verschiebt sich der Fokus von „die eigenen Grenzen klar machen“ hin zu „in Interaktion sein und bleiben“. Eine Grenzüberschreitung findet genau dann statt, wenn auf ein Nein nicht reagiert wird, wenn die Interaktion abgebrochen wird. (…)
Ein Nein ist schwierig zu hören, wenn ich es als Zurückweisung verstehe. Dann sagst du Nein zu mir, zu mir als Ganzes, zu meiner Wahrheit. Eine häufige Reaktion auf ein Nein, das als Zurückweisung verstanden wird, ist die Frage „warum Nein?“, häufig auch zusammen mit einem Vorwurf. „Wieso willst du heute Abend doch nicht bei mir schlafen? Wir waren doch verabredet!“ Ich gebe dir zu verstehen, dass ich dein Nein nicht hören will, halte an der Situation vor dem Nein fest und stelle mich ins Zentrum unserer Interaktion. Es geht um meine verletzten Gefühle und enttäuschten Erwartungen. Und du bist schuld.
Mit einer Politik der Beziehungen und der Präzision stelle ich mir dich vor, erkenne deine Wahrheit an. Da ist ein Nein keine Zurückweisung, sondern ein: du beziehst mich ein in das, was da ist. Das ist Intimität. (…)
Es ist insbesondere schwierig ein Nein anzunehmen, wenn ich selbst ein Nein nur schwer äußern kann. Es ist eine Herausforderung, mich dem zu stellen, was ich dir von mir zeige, wenn ich Nein sage. Ich habe Angst davor, mich zu offenbaren und möglicherweise deinen Erwartungen nicht zu entsprechen. Stattdessen verhalte ich mich deinen von mir vorgestellten Erwartungen gemäß und gehe meiner Angst aus dem Weg. Ich verhalte mich defensiv, um einen Angriff im Vorhinein abzuwehren. Damit entscheide ich mich dafür, von einem Angriff auszugehen. Auch darin liegt Feindseligkeit. (…) So werden Beziehungen zu Käfigen, in die wir uns selbst sperren. Mit der Politik der Beziehungen und der Präzision bleibt mein Wollen lebendig und kann sich durch unsere Interaktion in etwas Unvorhergesehenes transformieren. (…)
Indem du auf mein Nein wohlwollend reagierst, kann ich zu Visionen kommen, die ich gar nicht vorhergesehen habe. Unter Verbündeten ist ein Nein ein wichtiger Teil unseres Experimentierens. (…)
Johanna Montanari arbeitet journalistisch vor allem zu queer-feministischen und gesellschaftspolitischen Themen. An der HU Berlin wirft sie im Rahmen ihrer Doktorarbeit eine postkoloniale Perspektive auf den Öffentlichkeitsbegriff und forscht dafür in Amman, Jordanien. Ihre Lieblingsthemen sind Visionen spinnen, Verbündete finden und Widersprüche in Bewegungen verwandeln.