Sexualisierte Gewalt und männliche Opfererfahrung – Schlaglichter auf ein komplexes Thema

Männliche Betroffenheit von sexualisierter Gewalt - eine Analyse von spezifischen Hürden in der Thematisierung

Malte Täubrich

Erschienen in: Ausgabe 01-2021
Rubriken: Sexualisierte Gewalt

In diesem Text wird skizziert, was unter sexualisierter Gewalt verstanden werden kann und welche Unterstützung Betroffene von sexualisierter Gewalt von ihrem Umfeld brauchen (können). Darauf aufbauend werden spezifisch männliche Opfererfahrungen fokussiert. Ich will zeigen, wie Vorstellungen von Männlichkeit es männlichen Betroffenen von sexualisierter Gewalt erschweren, über ihre Erfahrungen zu sprechen und Hilfe in Anspruch zu nehmen. Der Text beruht auf meiner persönlichen Erfahrung und professionellen (forschenden, fortbildenden und beratenden) Arbeit zum Thema Prävention sexualisierter Gewalt gegen (männliche) Kinder und Jugendliche.

Über sexualisierte Gewalt sprechen

Beim Thema sexualisierte Gewalt finden gesamtgesellschaftlich Umbrüche statt, was sagbar ist und wer sich wie dazu verhalten darf. Nicht erst seit #metoo nehmen sich Betroffene Raum, um gehört zu werden und öffentlich zu sprechen. In Deutschland haben 2010 erwachsene Männer, die in Kindheit und/oder Jugend sexualisierte Gewalt erlebt hatten, ihre Erfahrungen offengelegt. Das war, wie auch #metoo, ein Ereignis das an den Festen einer Kultur des Schweigens gerüttelt hat. Trotzdem ist sexualisierte Gewalt weiterhin schwer zu thematisieren. Das hat auch zur Folge, dass es oft diffuse oder enge Vorstellungen davon gibt, was mit sexualisierter Gewalt gemeint ist. So denken viele bei sexualisierter Gewalt nur an bestimmte Handlungen, meist orale, anale oder vaginale Penetration, und den Begriff Vergewaltigung.

Was ist sexualisierte Gewalt?

Sexualisierte Gewalt geht aber weit über diese Handlungen hinaus. Sexualisierte Gewalt kann sowohl mit als auch ohne Körperkontakt stattfinden, sowohl online als auch offline, mittels digitaler Medien, in der eigenen Küche oder in der U-Bahn. Dazu zählen ungewollte Berührungen, Fotos und Videos ohne allseitige Zustimmung zu machen (und zu verschicken), grenzverletzende Blicke, Sprüche oder Bemerkungen und der Zwang, sexuelle Handlungen vor oder an Anderen vorzunehmen, oder dabei zuzusehen.

Der Begriff sexualisierte Gewalt richtet die Perspektive auf die von Gewalt Betroffenen. Er rückt das Erleben der Betroffenen und ihre Einschätzung der Situation in den Vordergrund. Dadurch erhalten Betroffene die Deutungshoheit darüber, ob etwas sexualisierte Gewalt war/ist oder nicht, und nicht die Täter(_innen)1 oder das Umfeld. Sexualisierte Gewalt ist keine Form der Sexualität, weil sie gegen den Willen der Betroffenen passiert. Dabei nutzen Täter(_innen) Machtunterschiede zwischen sich und den Betroffenen aus, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Das dient oftmals der Erniedrigung, Beschämung und Unterdrückung der Betroffenen und der Aufwertung der Täter(_innen).2 Das dabei genutzte Machtgefälle basiert häufig auch auf gesellschaftlichen Machtverhältnissen wie Rassismus, Sexismus, Ableismus, Klassismus, Adultismus, Homo- oder Trans*feindlichkeit, usw. Sexualisierte Gewalt kann von Menschen aller Geschlechter ausgeübt werden und sich gegen Menschen aller Geschlechter richten. Täter(_innen) sind dabei Bekannte, Freund_innen, Eltern, Trainer_innen, Lehrer_innen, Unbekannte, Verwandte, Arbeitskolleg_innen, etc. Der größte Anteil der Übergriffe wird jedoch von cis Männern verübt und der Großteil der Übergriffe wird von Personen begangen, die den Betroffenen bekannt sind.

Die Folgen von sexualisierter Gewalt können sehr unterschiedlich sein. Auswirkungen sexualisierter Gewalt hängen z.B. maßgeblich von den Reaktionen des Umfeldes betroffener Personen ab, davon, ob das Umfeld beim Umgang mit den Gewalterfahrungen unterstützt und eventuelle Verantwortung für eigenes (Nicht-)Handeln übernimmt. Für Betroffene ist es unterstützend, wenn ihr Erleben und ihre Wahrnehmung nicht in Frage gestellt werden, auch wenn diese für das Umfeld erst einmal nicht plausibel klingen. Eine klar parteiliche Haltung mit den Betroffenen ist deswegen Grundlage für ihre Unterstützung. Wie ein Umgang mit erlebter Gewalt auszusehen hat, sollte auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet sein. Ein bevormundender Umgang kann sonst als Wiederholung der Ohnmachtserfahrung in der Gewaltsituation empfunden werden. Wichtig sind zuverlässige Beziehungen, in denen Betroffene nicht auf ihre Gewaltwiderfahrnisse reduziert werden, sondern weiterhin als Menschen mit unterschiedlichen Seiten, Bedürfnissen und vielfältigen, komplexen Biographien gesehen werden.

Männlichkeit und Betroffenheit von sexualisierter Gewalt

Beim Thema sexualisierte Gewalt und Männlichkeit gab es lange einen Fokus auf Männer als Täter. Männliche Betroffenheit von sexualisierter Gewalt kam nur vereinzelt in spezifischen Kontexten zur Sprache, so zum Beispiel im Knast, oder während bewaffneter Konflikte. Aber auch hier verändert sich, was thematisierbar ist.

Männliche Betroffene erleben spezifische Hürden,3 die es ihnen erschweren, die widerfahrene Gewalt als solche einzuordnen und adäquate Hilfe zu erhalten. Diese Hürden sind zutiefst verwoben mit dominanten Vorstellungen von Männlichkeit und davon, wie Menschen, die als männlich wahrgenommen werden (wollen), sein müssen und auch, wie sie nicht sein dürfen.4

Männlich ≠ Opfer ?

Männlichkeit ist weiter mit Begriffen wie Stärke, Durchsetzungsvermögen, Souveränität, Aktivität, Wehrhaftigkeit und Selbstkontrolle konnotiert. Das sind Eigenschaften, die der Erfahrung, zum Opfer von Gewalt zu werden, diametral entgegenstehen. Opfererfahrungen gehen meist mit Gefühlen von Ohnmacht, Handlungsunfähigkeit, Scham und Trauer einher. Die Widersprüchlichkeit von Gewalterfahrungen, die damit einhergehenden Emotionen und das Bild von Männlichkeit machen es Betroffenen und deren Umfeld oftmals schwer, sexualisierte Gewalt wahrzunehmen und Jungen, männliche Jugendliche oder Männer als Betroffene zu adressieren. Sowohl wenn die Gewalt von männlichen Tätern ausgeht, als auch wenn sie von älteren weiblichen Jugendliche oder Frauen ausgeübt wird, erschweren es gängige Vorstellungen von Männlichkeit, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Sie führen dazu, dass die Gewalt gar nicht als solche erkannt wird und daher auch nicht als Gewalt adressierbar ist. Dieses Verständnis von Männlichkeit zeigt sich auch im Hilfesystem als Wahrnehmungsblockade. So fällt es Fachkräften in unterschiedlichen Professionen aus dem Gesundheits- und Hilfebereich schwer, männliche Betroffene als solche wahrzunehmen. Auch wenn sie Hilfesignale (verbal oder nonverbal) senden, führt das oft nicht dazu, dass sie Hilfe bekommen bzw. ihre Notlage als solche erkannt wird. Vorstellungen von Autonomie, Wehrhaftigkeit und Unverletzbarkeit, die mit Männlichkeit verbunden werden, tragen zu einer strukturellen Unterfinanzierung von Hilfesystemen bei. Das schlägt sich unter anderem darin nieder, dass es bundesweit kaum Beratungsstellen für männliche* Betroffene sexualisierter Gewalt gibt.5

Männliche Sexualität: immer wollen?

Das Bild von männlicher Sexualität als „aktiv und immer wollend“ führt auf Seiten der Betroffenen dazu, dass bestimmte Formen sexualisierter Gewalt umgedeutet werden.6 Ein geläufiges Beispiel ist hier sexualisierte Gewalt durch ältere weibliche Jugendliche oder Frauen gegen männliche Kinder oder Jugendliche, die als „Einführung in die Sexualität“ umgedeutet wird. Dadurch lassen sich potentiell Ohnmachtsgefühle und Kontrollverlust abwehren und das Ereignis in eine Erzählung erfolgreicher heterosexueller Initiation umdeuten. Wenn die sexualisierte Gewalt durch männliche Täter ausgeübt wird, stellen sich viele Betroffene die Frage, ob dies ihre sexuelle Orientierung beeinflusst und ob sie aufgrund der Gewalt schwul werden. Diese Frage wird von außen an Betroffene herangetragen, oder entsteht durch verinnerlichte heteronormative Einstellungen. In der Forschung zu sexualisierter Gewalt gibt es keine Hinweise darauf, dass sexualisierte Gewalt die eigene sexuelle Orientierung beeinflusst. Zudem sind einige Betroffene verunsichert, wenn sie während der sexualisierten Gewalt eine Erektion oder einen Samenerguss hatten. Sie fragen sich, ob dies bedeutet, dass sie die Gewalt wollten oder gar genossen haben. Täter(_innen) schüren häufig diese Unsicherheit und reden Betroffenen ein, dass dies ein Zeichen für ihre Lust gewesen sei und verschieben somit die Wahrnehmung davon, was konsensuelle Sexualität und was sexualisierte Gewalt ist.7 Eine körperliche Reaktion, zum Beispiel auf längeres Manipulieren am Penis einer betroffenen Person, bedeutet nicht, dass Betroffene den sexuellen Handlungen bewusst zugestimmt haben oder diese wollten und sie ist auch kein Zeichen für ein Lustempfinden.

Männliche Betroffene und Täterschaft

Als letzte Dynamik der Verdeckung sexualisierter Gewalt sei hier noch die Vorstellung genannt, dass männliche Betroffene nach widerfahrener Gewalt selbst zu Tätern werden. Vom Umfeld der Betroffenen wird dies durch direkte Fragen wie zum Beispiel „Wirst du jetzt Täter?“ an sie herangetragen. Andere Betroffene berichten, dass sie, nachdem sie ihre Gewalterfahrungen offenlegten, nicht mehr auf die Kinder von Freund_innen aufpassen durften, weil es eine Sorge vor Übergriffen gab. Die Fantasie eines Zusammenhangs zwischen eigener Betroffenheit und späterer Täterschaft steht auf keiner faktischen Grundlage. Betroffene sollten als betroffen gesehen und behandelt werden und nicht mit einer potentiellen zukünftigen Täterschaft konfrontiert werden.

Wahnehmungsblockaden auflösen

Beim Thema sexualisierte Gewalt wird wahrnehmbar, wie eingrenzend und beengend klassische Vorstellungen von Männlichkeit sein können. Gewalterfahrungen und damit einhergehende Emotionen sind oftmals nur schwer mit diesen Vorstellungen überein zu bringen. Für eine ernsthafte kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit ist es relevant, sich mit den eigenen Erfahrungen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein zu beschäftigen und diese Gefühle als Teil des inneren emotionalen Erlebens zuzulassen. Das kann dazu führen, diese auch bei anderen besser wahrzunehmen und dadurch mehr für andere Menschen mit solchen Erfahrungen da sein zu können. Mindestens aber trägt es dazu bei, sich selbst vollständiger, jenseits von Geschlechternormen und den damit verbundenen Anforderungen und Verboten wahrnehmen zu können und diese einengenden Anforderungen und Verbote dann auch weniger an andere Menschen weiterzugeben. Betroffene sexualisierter Gewalt können also davon profitieren, wenn überkommene geschlechtliche Vorstellungen aufgebrochen und verändert werden.

Beratungsmöglichkeiten (eine Auswahl)

Bundesweites Hilfeportal und -telefon bei sexualisierter Gewalt 0800 22 55 530 https://www.hilfeportal-missbrauch.de

Für Betroffene jeden Alters aller Geschlechter: Wildwasser Deutschland https://www.wildwasser.de Wildwasser-Berlin Selbsthilfe berät zudem explizit auch Trans*

Für Kinder und Jugendliche, Bezugspersonen, Fachkräfte Zartbitter Köln https://zartbitter.de

Für Frauen und Mädchen (auch bei anderen Formen von Gewalt) Dachverband der Frauenberatungsstellen bundesweit https://www.frauen-gegen-gewalt.de

Für männliche Betroffene jeden Alters Basisprävent Hamburg https://basis-praevent.de/

Für Männer, die in Kindheit und Jugend sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren Tauwetter (Berlin) https://www.tauwetter.de

Für Schwarze und of Color LSBTIQ GLADT e. V. bundesweit (Gewalt allgemein & andere Themen) https://www.gladt.de

Für lesbische, queere und bisexuelle Frauen und Mädchen, Inter und Trans LesMigraS Berlin (zu Gewalt und Diskriminierung allgemein) https://www.lesmigras.de

Malte Täubrich arbeitet bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. mit einem Schwerpunkt auf sexualisierter Gewalt gegen (männliche) Kinder und Jugendliche und deren Prävention sowie queeren Perspektiven auf sexualisierte Gewalt.