Virile Vollpfosten #1
Argumente gegen antifeministische Klassiker
Wenn sich platzhirschiger Überlegenheitswahn mit unbearbeiteten Kränkungen paart, landet man schnell bei Gruppen und Online-Phänomenen wie Männerrechtlern, Maskuli(ni)sten, Pick-Up-Artists, Incels, MGTOWs (Men Going Their Own Way), Red-Pillern und ähnlichen peinlichen Zusammenschlüssen und Selbstbezeichnungen. Diese virilen Vollpfosten, im Folgenden „Vivos“, teilen allesamt Grundannahmen, die trotz Unterschieden im Detail im Kern darauf hinauslaufen, Männer1 als die Diskriminierten des Geschlechterverhältnisses zu zeichnen und emanzipatorische Bestrebungen zu verteufeln. In einem Zustand fortgeschrittener Derealisierung real existierender Ungleichheits- und Machtverhältnisse befeuern sich Vivos selbst immer weiter und richten sich schmollend-aggressiv in der Opferecke ein. #sehrpeinlich #wirklich!
Kennzeichnend für Vivos sind ganz bestimmte, dominanzorientierte Vorstellungen von Männlichkeit, die Inszenierung eines Geschlechterkampfs und das selektive Herausgreifen von Beispielen. Ziel ist dabei nicht, Nachteile für Jungen und Männer zu beseitigen und allen Menschen unabhängig von Geschlecht ein gutes Leben zu ermöglichen, sondern die Verewigung männlich-patriarchaler Vorherrschaft und die Dämonisierung von allen, die dagegen vorgehen, allen voran Feminist*innen. Um dies zu erreichen, benutzen Vivos seit Jahrzehnten stoisch die immer gleichen Beispiele, die mit manipulativen Verdrehungen und selektiven Zuspitzungen arbeiten.
Zwei dieser klassischen „Argumente“ aus der Mottenkiste des Antifeminismus gucken wir uns heute genauer an. Die Rubrik wird in den folgenden Ausgaben fortgesetzt.
„Fast alle tödlichen Arbeitsunfälle treffen Männer“
Die Kurzfassung
Ein von Vivos gerne bemühtes Beispiel für die angebliche Benachteiligung von Männern sind die deutlich höheren Todeszahlen von Männern auf der Arbeit. Es stimmt: Es gibt mehr Todesfälle von Männern auf der Arbeit. Es wäre paritätisch (gleich aufgeteilt), wenn Männer aufhörten, eine Kultur der Härte zu glorifizieren und den Ausschluss von Frauen und anderen Geschlechtern aus bestimmten Berufen aufgäben, eben auch aus jenen, in denen Männer zu Tode kommen. Aus einer linken und feministischen Sicht geht es selbstverständlich darum, Todesfälle auf der Arbeit zu verhindern und für gute Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Der Feminismus könnte hier ein Verbündeter zur Verhinderung des Problems sein. #justsayin
Die Langfassung
Das Statistische Bundesamt schreibt 2020 auf seiner Homepage: „2017 wurde einer von 100 000 Erwerbstätigen Opfer eines tödlichen Arbeitsunfalls. Das ist ein deutlicher Rückgang gegenüber 1997, als diese Zahl bei knapp drei tödlichen Unfällen lag. Tödliche Unfälle waren sehr ungleichmäßig auf die Geschlechter verteilt: 93,6 % der Unfälle mit tödlichem Ausgang betrafen Männer. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Männer häufiger in Branchen mit höheren Unfallgefahren arbeiten. Am häufigsten kamen tödliche Arbeitsunfälle in den Bereichen Wasserversorgung; Abwasser- und Abfallentsorgung, Bergbau sowie Verkehr und Lagerei vor.“2
An diesem Zitat werden u.a. zwei Dinge deutlich:
- Männer (und Frauen) arbeiten in ganz bestimmten Sphären.
- Es sind ganz bestimmte männlich codierte Berufe, in denen tödliche Arbeitsunfälle gehäuft vorkommen, und zwar tendenziell schlecht bezahlte mit wenig Prestige.
Im Rahmen einer unheiligen Allianz aus Kapitalismus, Patriarchat, Rassismus, Ableismus und weiterer unschöner Herrschaftsverhältnisse hat sich historisch eine horizontale wie vertikale Segregation des Arbeitsmarkts entwickelt. Horizontale Segregation meint hierbei bezogen auf Geschlecht die Verteilung von Frauen* und Männern in unterschiedliche Branchen und Berufe. Dies führt zu frauendominierten Segmenten wie beispielsweise den als SAHGE bezeichneten Berufsgruppen (Soziale Arbeit, haushaltsnahe Dienstleistungen, Gesundheit und Pflege, Erziehung und Bildung) inklusive Prekarität und männerdominierten Segmenten wie beispielsweise den als MINT bezeichneten Berufsgruppen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) inklusive höherer Bezahlung und gesellschaftlicher Anerkennung. Vertikale Segregation bezieht sich auf verschiedene Stufen der Betriebshierarchie in einer Gesellschaft, die es Männern leichter ermöglicht, in Spitzenpositionen aufzusteigen und Frauen* durch verschiedene Mechanismen unten hält. Im englischsprachigen Raum gibt es hierfür die Formulierung „sticky floor and glass ceiling“, also „klebriger Boden und gläserne Decke“. Gerade das mit dem „klebrigen Boden“ wird in einer deutschsprachigen Diskussion gerne ignoriert, obwohl es sich um die große Mehrzahl aller Frauen* handelt, die ohnehin niemals die Möglichkeit haben werden, ihren Kopf an der gläsernen Decke zu stoßen. Tatsächlich ist die Betrachtung aber komplizierter, wenn man intersektional Weiblichkeiten und Männlichkeiten in Arbeitsverhältnissen betrachtet, ob das behinderte Menschen in Werkstätten auf dem zweiten Arbeitsmarkt sind oder die rassistische Arbeitsteilung sowohl global als auch national. So kommt beispielsweise behinderten Männern alles andere als die oben angeführten Privilegien zugute und eine nichtbehinderte weißdeutsche Frau ist zumeist besser in der horizontalen und vertikalen Matrix aufgestellt als eine nichtbehinderte Frau of Color.
Anders formuliert: (weiße, deutsche, nichtbehinderte) Männer haben sich die guten Jobs gesichert und auch gegen weibliche Konkurrenz abgesichert. Man kann bei fast jedem Beruf, der männlich konnotiert ist, historisch nachzeichnen, wie Frauen* aus diesen systematisch verdrängt und bis heute ferngehalten werden. Wer sich – wie Vivos – darüber beklagt, dass Frauen* dort real nicht vorkommen, sollte zuallererst eine Kritik an dieser sexistischen Job-Politik formulieren und sich dafür einsetzen, dass alle Jobs allen Menschen unabhängig von Geschlecht (und anderen Zuschreibungen) offenstehen sollten.
Es gibt auch schlecht bezahlte männlich codierte Berufe und es kann davon ausgegangen werden, dass viele der tödlichen Arbeitsunfälle in diesen Bereichen vorkommen. Das Heraushalten von Frauen* hat hier weniger mit ökonomischer Privilegiensicherung zu tun als mit männlicher Identitätspolitik (die es allerdings zumeist auch in den gut bezahlten männerdominierten Bereichen gibt). Stoßen Frauen* in diese Berufszweige vor, geraten Männer, für die Männlichkeit eine tragende Säule ihres Selbstverständnisses ist, häufig in eine Identitätskrise und versuchen, ihre (männliche) Identität durch den Ausschluss von Frauen* zu stabilisieren. Das Festhalten an traditioneller Männlichkeit, insbesondere Risikoverhalten, sich keine Hilfe holen, „aushalten“ und einem rücksichtslosen und instrumentellen Umgang mit dem eigenen Körper als „Werkzeug“ oder „Maschine“, kann hier im wahrsten Sinne des Wortes tödlich sein und wird in der Arbeitsumfeldforschung als „Tarzan-Syndrom“ beschrieben. „Das Tarzan-Syndrom umschreibt, dass Männer mögliche Gefahrensignale nicht beachten und auch nicht so auf ihren Körper hören, wie Frauen dies tun. Sie wagen sich vielleicht etwas öfter an Dinge heran, die ihre Fähigkeiten übersteigen und hoffen, davonzukommen“, so Arbeitsmarktforscher Ole Gunni Busck von der Universität Aalborg in Dänemark.3 Das Tarzan-Syndrom sollte hierbei nicht nur als individuelle Entscheidung von Männern verstanden werden, sondern auch als gesellschaftliches Strukturmerkmal: als Männlichkeitsanforderung, die (durchaus auch von Frauen* formuliert) Männern eben diese Kultur der Härte nahelegt.
Ein rigides Verständnis von Männlichkeit ist vor den genannten Hintergründen schädlich für Männer. Noch einmal: Das Problem hier heißt „Männlichkeit“ – es heißt nicht „Feminismus“ oder „Frauen“. Vivos sind Meister darin, Sachverhalte manipulativ zu verdrehen. Wer argumentiert, dass Frauen* angeblich diese oder jene Arbeit nicht machen wollten, betreibt eine selbstschädigende männliche Identitätspolitik und ignoriert sexistische Ausschlussmechanismen.
Bei der angesprochenen Frage geht es nicht nur um Gleichstellung, sondern auf einer strukturellen Ebene um gute Arbeitsbedingungen. Tätigkeiten, in denen es eine erhöhte Gefahr gibt, dass Menschen zu Tode kommen, sollten perspektivisch nicht existieren bzw. – sofern sie gesellschaftlich notwendig sind – nur mit einem absoluten Maximum an Arbeitsschutz. Die Verknüpfung von Feminismus mit Antikapitalismus ist eine gute Verbündete für Arbeiter-Männlichkeiten (und für alle anderen auch).
„Jungen sind die Bildungsverlierer“
Die Kurzfassung
Die Diskussion um „Jungen als Bildungsverlierer“ ist auf vielen Ebenen schlichtweg falsch. Es gibt tatsächlich männliche Bildungsverlierer*, nämlich (mehrdimensional) diskriminierte Jungen* – diese sind jedoch nicht in der öffentlichen Wahrnehmung. Wer tatsächlich Jungen* unterstützen möchte, sollte Jungen* in ihrer Unterschiedlichkeit wahrnehmen und daraus abgeleitet vielseitige Angebote mit einem diversen pädagogischen Team machen. Der Funktion von Schule im Kapitalismus als Auslese- und Zurichtungsfabrik gilt es ein eigenständiges Recht auf Bildung entgegenzusetzen.
Die Langfassung
Vivos haben es geschafft, das Thema „Jungen als Bildungsverlierer“ bis weit in den deutschen Mainstream zu katapultieren. Hinter der Problematisierung, Jungen seien angeblich die Bildungsverlierer, steht die Analyse, dass es eine angebliche numerische (steigender Anteil weiblicher Lehrkräfte) und kulturelle (Frauen* werden männlichen Bedürfnissen nicht gerecht) Feminisierung von Schulen gäbe. Die häufig anzutreffende männliche Weigerung, sich mit Erziehung, Pädagogik und insbesondere dem Elementarbereich zuzuwenden, wird von Vivos in einer grandiosen Projektionsleistung Frauen* angelastet, indem ihnen „Umerziehung“ vorgeworfen und ganz allgemein Schule als weiblicher Raum gezeichnet wird, indem Jungen angeblich zu kurz kämen. Die Antwort darauf erschöpft sich fast immer in einer Dramatisierung von Geschlecht, irgendwie sollen Männer her und diese machen dann qua Geschlecht alles ganz anders als die Frauen*.
Statistisch ist es allerdings fragwürdig, ob sich das Geschlecht der Lehrkraft überhaupt auf die Leistungen der Schüler*innen auswirkt. In Westdeutschland waren 1960 auf Gymnasien 60% der Schüler männlich und 40% der Schülerinnen weiblich. Um 1980 herum kam es zu einer paritätischen Angleichung und in der Folge zu etwas mehr Mädchen als Jungen. Mädchen hatten schon immer bessere Schulnoten als Jungen, obwohl beispielsweise in den 1950er Jahren an Gymnasien überwiegend (männliche) Lehrer waren. Mehr Lehrer heißt von daher nicht bessere Schulleistungen von Jungen. Jungen gehen nicht lieber zur Schule, wenn Lehrer da sind; es gibt keinen Zusammenhang zwischen dem Geschlecht der Lehrperson und Schulleistungen. Der entscheidende Faktor – Überraschung! – ist spannender Unterricht und daran gekoppelt pädagogische Kompetenzen und der Charakter der Lehrperson, nicht zuletzt auch eine faire Benotung.
Wenn der Dramatisierung des Geschlechts keine statistischen Werte entsprechen, stellt sich die Frage, warum es die Debatte um Jungen als Bildungsverlierer seit gut zehn Jahren überhaupt gibt? Die ganze Diskussion um „Jungen als Bildungsverlierer“ existiert nur vor dem Hintergrund der Erosion des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses und einer allgemeinen Prekarisierung, von der mittlerweile auch traditionell männliche Berufe erfasst sind. Früher haben die schlechteren Schulnoten von Jungen niemanden so richtig interessiert, weil die Wirtschaft (Industrie/Handwerk) in Deutschland stark und die Arbeitslosigkeit niedrig war. Noch mal anders: Kein Vivo würde nach Jungen krähen, wenn es die genannten strukturellen Änderungen des Arbeitsmarkts nicht gegeben hätte und die patriarchale Dividende im Rahmen einer männlichen Normalbiografie nicht gefährdet wäre. Und nur mal so nebenbei bemerkt: Es hat sie auch in den 50er Jahren nicht interessiert, als es deutlich mehr Abiturienten und Lehrer als Abiturientinnen und Lehrerinnen gab. #sagtejemandscheinheilig?
Aber: Geschlecht spielt eine Rolle in der Schule, und zwar eine große!
- Es gibt für Jungen ein gegensätzliches Set von Erwartungshaltungen. Als Schüler sollen sie gut sein und Leistung erbringen und werden dafür belohnt. Als Junge hingegen sollen sie cool sein, keinen Fleiß zeigen, den*die Lehrer*in piesacken etc. Dieses Dilemma zwischen Schulanforderungen auf der einen und Männlichkeitsanforderungen auf der anderen Seite produziert einen permanenten double bind der zudem führt, was in der einschlägigen Forschung als „Passungsproblem“ zwischen Schulkultur und männlichem Habitus beschrieben wurde.4 Männliche Peer-Kulturen (für Bourdieu-Fans: die ernsten Spiele des Wettbewerbs) fördern Einstellungen, die weniger kompatibel zum System Schule sind, wo angepasstes Verhalten belohnt wird – im Übrigen sowohl von Lehrern als auch Lehrerinnen gleichermaßen. Jungen haben vor diesem Hintergrund häufig eine schädliche Einstellung zum Lernen, überschätzen sich und strengen sich nicht an. Dies ist anders bei weiblichen Peer-Kulturen und auch bei Jungen* aus Akademiker*innenhaushalten kann dieser Widerspruch abgemildert auftreten. Genau dieser männliche Habitus, der in der Schule nachteilig ist, wirkt sich jedoch positiv nach der Schulzeit aus. Die Fähigkeit zu und die Lust am Konkurrieren bieten einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Trotz schlechteren Bildungsniveaus haben Jungen bessere Berufs-, Karriere- und Verdienstchancen (vertikale Segregation).
- Das Passungsproblem wird dadurch verstärkt, dass Anerkennung in der Schule einer adäquaten Geschlechtsidentität und eines passenden Geschlechtsausdrucks bedarf. Sind diese nicht gegeben, drohen häufig Mobbing, Bullying und andere Formen von Gewalt, die sehr häufig etwas mit Geschlecht zu tun haben (unsportliche Jungen*, fleißige Jungen* etc.) und sich zugleich auf die Leistung auswirken. Dass Trans*-Biografien häufig mit Schulwechseln einhergehen, schwule Schüler* sich zumeist erst nach der Schulzeit outen und Inter* alles tun, um nicht aufzufallen, spricht Bände.
- Damit wird auch das bedeutsam, was in der Forschung als „Intersektionalität“ bezeichnet wird. Männlichkeit wirkt – so wie auch Weiblichkeit – in Verschränkung mit anderen Achsen der Ungleichheit vor- bzw. nachteilig. Männliche Schüler aus Akademiker*innen-Familien haben zum Beispiel in Mathematik und in den Naturwissenschaften überdurchschnittliche Noten; in den Leistungskursen für Physik und Chemie überwiegen weiterhin eindeutig die Jungen. Widerfahren Jungen hingegen Klassismus, Ableismus, Rassismus und/oder andere Formen von Diskriminierung, ist dies in Verschränkung mit Männlichkeit nachteilig. Kinder von Eltern mit niedrigem Bildungslevel weisen ein vielfach höheres Bildungsausstiegsrisiko auf als Kinder von Eltern mit mittlerer oder höherer Bildung. Sonder- und Förderschulen waren schon immer Schulen der Armen, heutzutage finden sich auf ihnen ganz überwiegend Jungen mit Rassismus- und Klassismuswiderfahrnissen. Mehr als 20% der deutsch-türkischen Schulabgänger bleiben ohne Schulabschluss und mehr als ein Drittel ohne Ausbildungsplatz. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Diese Befunde bedeuten einerseits, dass es „die Jungen“ nicht gibt. Wenn von „den Jungen“ die Rede ist, handelt es sich um eine identitäre Fiktion von Vivos. Die binnengeschlechtlichen Unterschiede innerhalb der Gruppe „der Jungen“ (und „der Mädchen“) ist viel größer als zwischen Jungen* und Mädchen*. Andererseits ist die Gruppe der Bildungsverlierer*innen nicht einfach als „männlich“ zu bezeichnen, sondern eben als „intersektional“. Es gibt ganz real Bildungsverlierer*innen, nämlich deklassierte Jungen* und Mädchen*, Jungen und Mädchen of Color*, Jungen* und Mädchen*, denen Ableismus widerfährt, Trans*- und Inter*-Schüler*innen. Diese tatsächlichen Bildungsverlierer*innen sind hingegen überhaupt nicht im Fokus der Mainstreamdiskussion. Bezeichnenderweise fordern Vivos nicht Schwarze Lehrer aus Arbeiter*innenfamilien als Lehrkräfte, sondern unterschiedslos „Männer“. Die ausschließliche Fokussierung auf (Zwei)Geschlecht(lichkeit) bei Bildungsungerechtigkeiten ist ein Verschiebediskurs, der die Hauptkriterien Behinderung, Race und Klasse in ihrer intersektionalen Verschränkung mit Geschlecht dethematisiert.
Die von Vivos vorgebrachten Forderungen nach „jungengerechten“ Methoden/Didaktik, Monoedukation, Toberäume für Jungen, eigene Bücher oder mehr männlichem Lehrpersonal basieren auf der Annahme geschlechtsspezifischer homogener Interessen und Bedürfnissen. Diese verblüffend schlichten Analysen negieren nicht nur die Diversität männlicher (und weiblicher) Kinder und Jugendlicher. Sie verschärfen darüber hinaus in dramatischer Weise Männlichkeitsanforderungen und damit den Druck, der auf all jenen lastet, die sich als Junge identifizieren oder als solcher wahrgenommen werden. Handlungsspielräume werden dadurch eingeschränkt anstatt erweitert. #SchussInDenOfen
Stattdessen ist es sinnvoll
- Kinder und Jugendliche in ihrer Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und zu fördern
- Toberäume und Bücher für alle Geschlechter bereit zu stellen
- die tatsächlichen Bildungsverlierer*innen in den Blick zu nehmen. Dazu gehören insbesondere mehrdimensional diskriminierte Jungen* und Mädchen*.
- die sexistische Abwertung der Arbeit von Frauen* zu beenden (ja, Frauen* haben schon immer mit Jungen* gearbeitet und zwar sehr gut!)
- statt pauschal und unterkomplex mehr Männer zu fordern eine radikale und intersektionale Diversity zu implementieren (mehr behinderte/POC/Arbeiter*innen/homosexuelle/Trans*-/Inter*-/…-Lehrende mit vielfältigen Interessen und Fähigkeiten – NICHT Männer einstellen fürs harte Durchgreifen und Fußball…)
- Schule als im Kapitalismus notwendige Ausleseanstalt zu kritisieren und für eine Gesellschaft zu streiten, die Orte des Lernens schafft, deren ausschließliche Funktion Bildung ist – und nicht Auslese.
Fazit
Vivos betreiben politische Fehlinterpretation und wollen die Gesellschaft enger machen. Sie streben geschlechtliche Konformität und Zwang an. Die beiden angesprochenen Beispiele hingegen zeigen, dass die derzeitige Vorstellung und gelebte Praxis von Männlichkeit die Ursache für Nachteile von Jungen und Männern sind. Der zwanghafte Versuch von Vivos, einen ursächlichen Zusammenhang zu Frauen oder Feminismus herzustellen, ist nicht nur falsch und sexistisch, sondern auch gefährlich und selbstschädigend für Männer. Vivos gehört von daher widersprochen. #uffjedsten
Zum Weiterlesen
Wer noch mehr wissen möchte oder die an einigen Stellen fehlenden Quellenbelege bemängelt, wird hier fündig:
Debus, Katharina (2012): Schule – Leistung – Geschlecht. In: Dissens e.V. & Debus, Katharina / Könnecke, Bernard / Schwerma, Klaus / Stuve, Olaf (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule. Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungenarbeit, Geschlecht und Bildung. Berlin: Eigendruck, S. 138-148. https://jus.dissens.de/fileadmin/JuS/Redaktion/Dokumente/Buch/Debus%20-%20Schule-Leistung-Geschlecht.pdf [Abruf: 13.09.2020].
Rieske, Thomas Viola (2011): Bildung von Geschlecht: Zur Diskussion um Jungenbenachteiligung und Feminisierung in deutschen Bildungsinstitutionen. Max-Traeger-Stiftung / Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft: Frankfurt a.M. https://www.gew.de/index.php?eID=dumpFile&t=f&f=25095&token=bdd1ede5c7704ccf26bb9750341994f828dba35d&sdownload=&n=Bro_Bildung_von_Geschlecht_web.pdf [Abruf: 13.09.2020].
Stergiou-Kita, Mary u.a. (2015): Danger zone: Men, masculinity and occupational health and safety in high risk occupations. Author manuscript; Published in final edited form in Safety Science, Vol. 80, Dec. 2015, Pages 213-220. https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4880472/ [Abruf: 13.10.2020].
Fußnoten
1
Männer/Jungen/Frauen/Mädchen ohne Sternchen meint cisgeschlechtliche Menschen, mit Sternchen sind Trans* und Menschen, die gender-non-conforming sind, inkludiert. In einigen Fällen fand ich das nicht klar abgrenzbar und ein Großteil der Forschung ist auch strikt zweigeschlechtlich, so dass man sicherlich an der oder anderen Stelle auch anders hätte schreiben können.
2
Statistisches Bundesamt (2020): Tödliche Arbeitsunfälle. https://www.destatis.de/DE/Themen/Arbeit/Arbeitsmarkt/Qualitaet-Arbeit/Dimension-1/toedliche-arbeitsunfaelle.html [Zugriff: 13.09.2020].
3
CVT: Neun von zehn tödlichen Arbeitsunfällen treffen Männer. In: Der Nordschleswiger vom 07.05.2017. https://www.nordschleswiger.dk/de/daenemark-gesellschaft/neun-von-zehn-toedlichen-arbeitsunfaellen-treffen-maenner [Zugriff: 22.09.2020].
4
Budde, Jürgen / Mammes, Ingelore (Hrsg.) (2009): Jungenforschung empirisch. Zwischen Schule, männlichem Habitus und Peerkultur. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Andreas Hechler interessiert die Verbindung der kleinen mit den ganz großen Fragen, das Individuum und die Gesellschaft, der Alltag und die Herrschaft, die Therapie und die Revolution, die Psyche und die Macht. Mehr unter: andreashechler.com